Dienstag, 14. November 2023

Kleine quadratische Pflastersteine aus der Alten Welt

Ich fragte die Kellnerin, warum hier in Brasilien, sowohl in Rio als auch in São Paulo, alle mondänen Plätze und alle Bürgersteige und Strandpromenaden mit denselben kleinen glänzenden weißen und schwarzen quadratischen Steinen gepflastert sind wie in Lissabon oder anderen Städten in Portugal.   


Natürlich war es eine portugiesische Kolonie, und viele Dinge wurden hier auf dieselbe Weise gemacht wie "zu Hause" in Portugal in diesen Tagen.
Aber es sei doch ein Zufall, dass hier in Lateinamerika in den Bergbaugebieten die gleichen Steine abgebaut und für die Straßen verwendet werden konnten wie in Lissabon.
Die Antwort war beeindruckend, einfach und hat mich gleichzeitig zum Nachdenken gebracht, noch mehr als zuvor, als ich das Café betrat und den mosaikartigen Boden bestaunte.

Die Kellnerin antwortete indem sie begann eine Geschichte zu erzählen 
Damals, viele Jahre nach Kolumbus, aber viele Jahre vor unserer Zeit, fuhren grosse und stolze Segelschiffe regelmäßig zwischen dem Mutterland in Europa und den Kolonien in Lateinamerika. Die Route führte von Lissabon nach Süden über Dakar im Senegal, nach Cabo Verde und dann über den Atlantik. In Dakar kauften die Menschenhändler auf einem speziellen Markt starke Sklaven. Diese wurden in den neuen Gebieten Brasiliens benötigt, um das begehrte Gold abzubauen. Tausende von Tonnen davon lagen dort im Boden; sie mussten nur hart arbeiten, um es aus dem Boden zu holen und es dann zu den Herrschern in Europa zu bringen, damit diese noch reicher und mächtiger wurden. Egal, wie viele Sklaven eingesetzt wurden, egal, ob das kostbare Gold den indianischen Ureinwohnern gehörte, es wurde hemmungslos gestohlen und über viele Jahrhunderte ging man über Leichen und stärkte die Macht und den Reichtum Europas. Davon profitierten nicht nur die Machthaber und Könige, sondern die gesamte europäische Gesellschaft. Auf Kosten vieler Menschen in Afrika, die zufällig an der Route lebten und ungefragt als Sklaven eingesetzt wurden, aber auch auf Kosten vieler Menschen, die schon vor diesen europäischen Schiffen in diesen schönen Ländern lebten und mehr oder weniger im Einklang mit der Natur, den Tieren und den natürlichen Ressourcen lebten.
Ich lauscht gespannt zu. Die Kellnerin schmückte die Geschehnisse gerne noch etwas aus und brachte ein paar dramatische Elemente in ihre Ausführungen. Ich wusste um diese traurige Geschichte der Sklaven und der Indigene. 
Aber nun hackte ich nach. Ich sah grad den Zusammenhang mit dem Gold und den Sklaven und den Segelschiffen und meiner Frage um die kleinen quadratischen schwarzen und weissen Steinen, die hier in Rio und São Paulo verwendet wurden, um so wie in Lissabon die mondänen Plätze zu pflastern und zu zieren, noch nicht.
Die Kellnerin kam etwas näher und holte dann aus um die finale Antwort auf meine Beobachtung und daraus resultierenden Frage zu formulieren. Den Spannungsbogen hatte sie nun ja weissgott beinahe schon überspannt …
Die grossen mächtigen Segelschiffe waren gebaut um schwere Lasten über den Atlantico zu verschiffen. Sie sollten das wertvolle Gold zurück in die europäische Heimat liefern. Doch auf dem Hinweg waren die grossen Schiffe enorm instabil im Wind wenn die Laderäume leer waren. Ein findiger Ingenieur kam auf die geniale Idee, genau diese schwarzen und weissen quadratischen Steine auf dem Weg von Lissabon in die neue Welt in die riesigen Laderäume der Segelschiffe zu füllen, sie brauchten ungefähr denselben Platz bei demselben Gewicht wie das Gold auf dem Rückweg. Was für eine geniale Idee, was für ein Geniestreich, was für ein guter Deal. Man brachte Steine in die neue Welt und tauschte sie ein in pures Gold.
Diese letzten Tage in São Paulo und Rio bin ich täglich sicher um die 250000 Schritte gegangen um die Städte zu erkunden, so wie ich das in jeder Stadt tue. Ich schlenderte über weite Strandpromenaden, flanierte über grosse Plätze und schritt über endlose Trottoirs. All diese Wege und Plätze gepflastert mit Millionen von solchen kleinen quadratischen Steinen, glänzend in weiss und in schwarz, alle eingeschifft und transportiert aus dem fernen Portugal. 
Ich bezahlte meinen schwarzen Espresso und trat hinaus in die grelle Sonne, mitten auf einen grossen weiten Platz, voll dieser Steine. 
Ich wagte gar nicht, sie zu betreten. Plötzlich wurde mir bewusst, was da vor vielen Jahren passiert ist und was da nun auf all den grossen Plätzen in Brasilien auf der Strasse lag und was der Hintergrund war. Ich war schon etwas nachdenklich also ich das Café betrat, aber jetzt beim Verlassen stürztet ich in tiefe Gedanken. Der Diebstahl schien mir soo unermesslich gross, dass ich mich fragte, warum denn nie ein riesengrosser Aufschrei durch die Gesellschaft platzte. Wenn man all die News und Katastrophen und Kriege der letzten paar Jahre betrachtete und diese Sensations-Headlines in den Medien las, dann wurde man sicher betroffen.  Aber wenn man sich mal vor Augen führt, was da vor vielen Jahren für ein scheinbar guter Deal zwischen Lateinamerika und Europa mit dem Tausch von simplen Steinen zu purem Gold stattfand, dann sollte man nachdenklich werden und alles in eine gewisse Relation bringen. Was damals passiert ist, scheint mir so unfassbar viel grösser als all die Sensationsmeldungen von heutigen Katastrophen. Aber mir ist natürlich klar, solche Dinge darf man nicht vergleichen. Aber vergessen, was vor vielen Jahren passierte, darf man auch nicht. 
Ehrfürchtig werde ich morgen die Plätze von Rio de Janeiro nochmals bestaunen und nachdenklich würdigen.